Nicht um jeden Preis

Es haben bereits 685 Genoss:innen unterschrieben, unterschreibe selbst!

Offener Brief zum Sondierungspapier von SPD und CDU/CSU

Wir – die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner – sind uns der schwierigen Ausgangssituation für diese Koalitionsbildung bewusst und sind überzeugt, dass alle Akteurinnen und Akteure, insbesondere die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokaten äußerst verantwortungsvoll mit der Situation umgehen. Gerade deswegen wollen wir mit diesem Brief ein Signal des Protests gegen die Sprache und Inhalte des Sondierungspapiers aussenden und an alle Beteiligten appellieren, in den weiteren Gesprächen deutlich andere Schwerpunkte zu setzen.

Wir müssen feststellen, dass das Sondierungspapier bisher keinen realistischen Blick auf die Herausforderungen, mit denen wir aktuell konfrontiert sind nimmt. Die Frage einer sich auflösenden Weltordnung, die sich verschärfende Klimakrise und echte Bestrebungen zur Stärkung unseres gesellschaftlichen Zusammenhalts sowie eine fairere Verteilung des Wohlstands in unserer Gesellschaft fehlen. Wichtige Themen für die Mehrheit der Menschen im Land, wie sozialer Wohnungsbau, die Unterstützung der demokratischen Zivilgesellschaft, eine gute Gesundheitsversorgung und die Verhinderung des Pflegekollapses, die Stärkung von Familien auf allen Ebenen, gleiche Lebensverhältnisse in Ost und West, die Bekämpfung der Armut oder bezahlbare Lebenshaltungskosten werden unter „Sonstiges“ geführt oder gar nicht erst erwähnt. Stattdessen droht den lohnabhängig Beschäftigten unter dem Stichwort „Flexibilisierung“ eine Entgrenzung ihrer täglichen Arbeitszeit.

Das Sondierungspapier erweckt vielmehr den Eindruck, das Thema Migration sei unser einziges und größtes Problem und die „Polarisierung im Land“ sei durch die Bekämpfung „irregulärer Migration“ zu lösen. Damit reiht sich die SPD in den Reigen derer ein, die Probleme über gesellschaftliches „nach unten treten“ zu lösen versuchen. Und in gleicher Weise werden Arbeitslose als unwillig und faul diffamiert. Damit widerspricht das Papier sozialdemokratischen und nicht zuletzt menschenrechtlichen Grundpositionen und verstößt gerade im Umgang mit den Schwächsten unserer Gesellschaft mehrfach gegen die Grundrechte unserer Verfassung.

Migration

Die Bundestagswahlergebnisse haben ganz klar gezeigt, dass das Wahlkampfthema „Migration“ als „Angstthema“ nur einer Partei Zuwachs beschert hat. Es steht außer Frage, dass Flucht, Zuwanderung und Integration wichtige politische Fragen sind. Dass an entscheidenden Stellen auch nachgebessert werden muss, insbesondere bei der Umsetzung bereits bestehender Rechtslagen steht fest. Keinesfalls aber darf es für die SPD tragbar sein, die faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl umzusetzen. Nicht zuletzt, weil es hier um Menschen geht. Die geplante Möglichkeit für den Entzug der deutschen Staatsbürgerschaft und die damit verbundene Schaffung einer Staatsbürgerschaft zweiter Klasse ist sowohl sachlich als auch politisch falsch, zudem gibt es Bedenken, dass dieses Vorhaben verfassungswidrig ist. Der Stopp des Familiennachzugs sowie die Abweisung an den Grenzen treibt Menschen, die lebensgefährliche Fluchtwege hinter sich haben, zudem erbarmungslos in die Illegalität.

Hinzu kommt, dass die Formulierung „in Abstimmung mit unseren europäischen Nachbarn“ schon deutlich macht, dass die Abweisungen nicht umzusetzen sind, da sie gegen europäisches Recht verstoßen. Dieser bloße Aktionismus aufgrund eines vermeintlich öffentlichen Drucks führt lediglich dazu, dass sich der öffentliche Diskurs immer weiter nach rechts verschiebt. Die geplanten Verschärfungen setzen an rassistische Ressentiments der AfD an und verkennen, dass sämtliche Asylrechtsverschärfungen der letzten Jahre die Polarisierung in der Gesellschaft nur weiter angestachelt statt befriedet haben – auf Kosten derer, die hier Schutz suchen. Wir fordern daher weiter, geflüchteten-feindliche und durch die rechtsextreme AfD etablierte Frames wie „irreguläre Migration“ und „Rückführungsoffensive“ nicht in den Koalitionsvertrag aufzunehmen.

Bürgergeld

Die SPD hat lange für eine Reform von Hartz4 gekämpft, insbesondere um die individuelle Gängelung Vieler sowie der Angst vor dem persönlichen Ruin durch Arbeitslosigkeit und damit dem faktischenDruck auf alle lohnabhängigen Beschäftigten entgegenzuwirken. Wir leben in einem sozialen Rechtsstaat. Das Bundesverfassungsgericht hat bereits festgestellt, dass der Sozialstaat das Existenzminimum verlässlich absichern muss. Genau das sichert das Bürgergeld ab, das Existenzminimum – nicht Mehr und nicht Weniger. Ein vollständiger Leistungsentzug bei Arbeitsverweigerung ist verfassungswidrig, denn das Bundesverfassungsgericht hat Sanktionen auf maximal 30 % des Regelsatzes begrenzt.

Formulierungen wie „großangelegter Sozialmissbrauch“ sind durch Fakten widerlegt und führen ebenso wie beim Thema Migration nicht dazu, dass die Polarisierung in der Gesellschaft weniger wird, sondern verschärft diese nur weiter indem sie Menschen gegeneinander aufbringt. Denn das Bürgergeld sichert die Existenz von Menschen mit chronischen Krankheiten und Behinderungen, von Alleinerziehenden, Kindern und Jugendlichen sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die ihren Lohn aufstocken müssen, damit sie über die Runden kommen. Die Fakten belegen, dass von allen Bürgergeld-Empfänger:innen gerade mal 0,3 Prozent Jobangebote ablehnen. Wie Hubertus Heil sagt „ist es unredlich, Menschen, die wenig verdienen, gegen diejenigen auszuspielen, denen noch weniger Mittel zur Verfügung stehen.“

Demokratie

Am Rosenmontag hat ein mutmaßlicher Rechtsextremist in Mannheim einen Anschlag mit zwei Toten und 14 Verletzten verübt. Die Zahl rechtsextremer Straftaten hat im Jahr 2024 einen neuen Höchststand erreicht: 33.963 Delikte, das sind fast 3.000 Neonazi-Straftaten pro Monat. Es ist die Aufgabe des Staates, diejenigen zu schützen, die diesen Angriffen ausgesetzt sind. Auch die demokratische Zivilgesellschaft braucht unsere Unterstützung und unseren Schutz – nicht nur trotz, sondern gerade weil sie unbequem gegenüber der Politik ist. Die Äußerungen von Friedrich Merz vor der Wahl zu den Massenprotesten, die Delegitimierungskampagne der Springer-Presse und die Einschüchterungsversuche der CDU durch die „Kleine Anfrage“ sind ein Angriff auf die Menschen, die sich täglich für Demokratie und gegen Rechtsextremismus einsetzen und müssen sozialdemokratischen Widerstand mit sich bringen. Es ist endlich Zeit für ein Demokratiefördergesetz, damit die Projekte, die Menschen in ihrem Engagement unterstützen abgesichert sind. Dass davon nun gar nichts im Papier steht ist ein besorgniserregendes Signal an alle, denen die Sozialdemokratie Unterstützung zugesagt hat.

Aus den genannten Gründen ist für uns das Sondierungspapier eine schlechte Verhandlungsgrundlage für weitere Gespräche mit der CDU. Die SPD darf sich nicht inhaltlich überflüssig machen. Es ergibt keinen Sinn sich in eine Koalition zu begeben, um die AfD zu verhindern, nur um dann AfD Politik durchzusetzen. Vielmehr muss sich die SPD in den Verhandlungen mit der CDU/CSU auch dafür einsetzen, dass alle demokratischen Parteien, ob Regierungskoalition oder Opposition gemeinsam parlamentarische Strategien und Ansätze erarbeiten, wie ein weiteres Erstarken der rechtsextremen und demokratiefeindlichen AfD verhindert werden und wie eine friedliche, freiheitliche und solidarische, den Grundrechten unserer Demokratie gedeihliche gesellschaftliche Entwicklung ermöglicht werden kann. Wir Mitglieder sind angehalten dem Koalitionsvertrag unsere Zustimmung oder Ablehnung zu geben. Um so wichtiger ist es, dass schon bei der Erstellung alle Stimmen in der Partei gehört werden.

Erstunterzeichner:innen